Russlands Rote Linien – Und wer wirklich eskaliert
23. Februar 2022 um 8:47Ein Artikel von: Tobias Riegel
Der russische Schritt, die ukrainischen „Volksrepubliken“ anzuerkennen, erscheint drastisch. Aber: Wurde damit nicht die konkrete Gefahr Kriegstoter gesenkt? Betreibt Russland mit dem aktuellen Vorgehen indirekt Notwehr – angesichts perspektivischer Stationierung schwererer westlicher Waffen an seiner Grenze? Wie kann Russland ein Abkommen „begraben“, das die Ukraine nie akzeptiert hat? Lässt sich die antirussische Meinungsmache noch steigern? Und: Kann man der Ukraine im Sinne des Weltfriedens eine militärisch neutrale Position abverlangen? Ein Kommentar von Tobias Riegel.
Russland hat die „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine anerkannt. Hat der russische Präsident Wladimir Putin damit „Öl ins Feuer gegossen“, hat er das „Minsker Abkommen für beendet erklärt“ und die „Kriegsgefahr weiter erhöht“, wie es nun in zahlreichen Medien heißt? Meiner Meinung nach nicht: Bisher zumindest ist der (militärisch) zusätzlich eskalierende Charakter des Schrittes nicht zu beobachten – in den Gebieten wird seit Jahren gekämpft: Der Feldzug gegen den Donbass wurde 2014 von Kiew unter dem Label „Anti-Terror-Einsatz“ begonnen, es sind nicht zuerst die russischen „Friedenstruppen“, die nun die Gewalt dorthin bringen.
Zudem kann die (nun auch offizielle) Präsenz russischer Soldaten die eskalierenden Aggressionen von ukrainischer Seite wahrscheinlich eher stoppen, als das bisher der Fall war – das könnte auch Leben retten. Ich interpretiere den Schritt auch als Akt der Notwehr durch Russland, angesichts einer perspektivisch drohenden schweren Bewaffnung der Ukraine durch die ganz offen feindlich gesinnten USA. Völkerrechtlich umstritten ist der Schritt dennoch.
Hat Putin den „Friedensprozess“ beerdigt?
Hat Putin das Minsker Abkommen „begraben“, wie es nun heißt? Nein: Dieses Abkommen wurde seit Jahren von ukrainischer Seite abgelehnt. Im „Freitag“ beschreibt etwa Lutz Herden, „dass die Führung in Kiew bis auf den Gefangenen-Austausch keinen Deut des im Februar 2015 geschlossenen Minsk-II-Abkommens erfüllen wollte“. Und auch Thomas Röper erläutert, dass es eben nicht Russland war, das das Minsk-II-Abkommen „beerdigt“ hat, sondern die Ukraine, indem sie es verweigerte – und indirekt die EU, weil sie nicht auf die Umsetzung gepocht hat.
Ist die Anerkennung der Republiken aus russischer Sicht nachzuvollziehen? Dazu muss auch eine vorgelagerte Frage gestellt werden: Sind die vorher ungehört verhallten russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien berechtigt? Aus meiner Sicht: ja. Russland kann eine westlich schwer bewaffnete Ukraine nicht akzeptieren – ebensowenig wie die jahrelangen Angriffe der Ukraine auf den Donbass. Außerdem wurde vom Westen im Vorfeld eine (ernstgemeinte) Diplomatie verweigert und es wurden feindliche Signale gesendet – neben der Botschaft, die „Souveränität“ der Ukraine stünde über allem. Und warum sollte aus russischer Sicht verbalen westlichen Zusagen noch zu trauen sein, nach der wortbrüchigen NATO-Osterweiterung, den westlich unterstützten Kriegen und Umstürzen und der aggressiven antirussischen Kampagne aus Sanktionen und Propaganda der letzten Jahre?
Für eine Bewertung der Vorgänge ist es nicht nur wichtig, wie ernst man die russischen Sicherheitsbedenken nimmt, sondern auch, wie die Gegenseite in einem ähnlichen Fall reagieren würde. Würde Russland versuchen, schwere Waffen in Mexiko zu stationieren, so wäre bereits dieser Versuch der Eskalation als grobe Gefährdung des Weltfriedens scharf abzulehnen. Wie die USA auf feindliche Raketen in ihrer Nähe reagieren würden, ist wohl offensichtlich. Konsequente Schritte der USA, schwere feindliche Waffen an der eigenen Grenze zu verhindern, würden von westlichen Medien (in dem Fall zu Recht) mit großer Nachsicht verfolgt.
Russlands Rote Linien
Auch aus gesundem Egoismus hätte man von westlicher Seite unbedingt auf die massiven Zuspitzungen der letzten Jahre verzichten und auf russische Bedürfnisse Rücksicht nehmen müssen. Nun ist das eingetreten, wovor die NachDenkSeiten seit Jahren warnen: Das Vertrauen Russlands ist verspielt. Und die europäischen Bürger (also auch Deutsche und Russen) werden darunter leiden in Form von Sanktionen und „sehr hohen Preisen“, die etwa Außenministerin Annalena Baerbock das Land zahlen zu lassen bereit ist. Und das sind „nur“ die materiellen Folgen.
Es stellt sich die Frage, ob Russlands Anerkennung der Republiken ein taktischer Fehler war. Sind die Handlungen Einfallstor für Propaganda, Sanktionen und für eine noch stärkere Trennung zwischen Deutschland und Russland auf Drängen der USA? Wären diese Aspekte bei einem „Wohlverhalten“ Russlands anders gekommen? Ist die Markierung von russischen Roten Linien nicht essenziell für das Entstehen einer multipolaren Welt? Wäre ein russisches „Wohlverhalten“ Unterwerfung unter die Logik des Erpressers? Trauriger Fakt ist: Das wichtige Energieprojekt Nord Stream2 ist nun gestoppt, womit ein Hauptmotiv für die Eskalation von US-Seite zulasten der deutschen Bürger erfüllt sein dürfte.
Putin „auf Steroiden“
Die Meinungsmache, die schon lange auf Hochtouren lief, ist inzwischen überwältigend. Als aktuelles Beispiel unter zahllosen sei hier auf einen „Faktencheck“ zu Aussagen Sahra Wagenknechts verwiesen, der den skandalösen Titel „Sahras Informationskrieg“ trägt und ein Paradebeispiel der Verdrehung ist. Und der „Tagesspiegel“ nannte deeskalierende LINKE kürzlich „Putins Linksverteidiger“.
Beim „Spiegel“ wird unterdessen auf unterstem Niveau die Behauptung per Ferndiagnose verbreitet, Wladimir Putin „werde mit Steroiden behandelt“. Die Redaktion „neigt dazu, die Doping-These für plausibel zu halten. Putin hetzte, wütete, seine Stimme überschlug sich. Er wirkte phasenweise nicht mehr wie ein Mann, der auf einer rationalen Grundlage handelt“.
Einflusssphären – Welt der politischen „Hinterhöfe“
Russland ist (zumindest offiziell) nicht an einer langfristigen Landnahme in der Ukraine interessiert (außer bei der Krim wegen der außerordentlichen strategischen Bedeutung) – ich persönlich glaube dieser Darstellung – vor allem, weil eine Quasi-Besatzung sehr teuer ist. Meiner Meinung nach stünden die Chancen darum gut, dass Russland den Donbass militärisch wieder verlässt, wenn vom Westen das Angebot einer militärisch neutralen Ukraine gemacht würde und endlich angemessener Druck auf Kiew gemacht würde, die Konfrontation gegenüber dem Donbass beenden. Dieser naheliegenden Idee steht eine massive Kampagne entgegen, die eine Demilitarisierung als „Verletzung der ukrainischen Souveränität“ geißelt.
Bei der Forderung nach neutralen Zonen landet man schnell in der fragwürdigen Welt der politischen Einflusssphären und staatlichen „Hinterhöfe“. Das Ziel einer blockfreien Welt ist das Ideal und das sollte mit Energie angestrebt werden. Aber auf dem langen Weg dorthin müssen auch Kriege verhindert werden – das geht manchmal durch neutrale Zonen und abgesteckte Interessensphären, auch wenn das eine destruktive Logik des Kalten Krieges zu bedienen scheint. Zumal die Spaltungen innerhalb der Ukraine so stark sind, dass als Alternative zu einem politisch-militärisch neutralen Status fast nur noch eine Teilung realistisch erscheint. Viele Beobachter haben bereits im Zuge des gewaltsamen Maidan-Umsturzes vor der nun erlebten Zerrissenheit zwischen den westlich und östlich orientierten Gruppen in der Ukraine gewarnt – sie wurden nicht gehört. Nun beklagen die Architekten der Krise mit Krokodilstränen ihre langfristigen Auswirkungen.
Das „Menschenrecht“ auf Raketen
In den vergangenen Wochen wurde in westlichen Medien eine fragwürdige Debatte um die Existenz von Einflusssphären geführt und die „Selbstbestimmung“ der Ukraine als extrem hohes Gut eingeordnet. Doch steht dieses Gut über dem Weltfrieden? Kann man die Existenz von Einflusssphären leugnen und gleichzeitig die Ukraine dem massiven US-Einfluss überlassen, der sich immer offener gegen europäische Interessen richtet?
Meiner Meinung nach darf man von der Ukraine verlangen, einen militärisch neutralen Status zwischen Russland und dem Westen einzunehmen. Die Stationierung schwerer Waffen muss beiden Seiten verboten werden. Das Land darf meiner Meinung nach von beiden Blöcken nicht zu einer Zugehörigkeit gedrängt werden.
Die plötzlich heilige „Selbstbestimmung“
Auf die Frage von „Einflusssphären“ sind die NachDenkSeiten kürzlich im Artikel „‚Falsche Flagge’: USA beklagen die eigenen Propagandatechniken“ eingegangen. Dort wird etwa beschrieben, wie westliche Staaten unter Führung des US-Militärs zahlreiche Staaten als Einflusssphären behandelt und sie dabei unter Inkaufnahme zahlloser Toter weitgehend zerstört haben: Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien seien nur die dramatischsten Beispiele. Das aktuell in westlichen Medien geheiligte „Selbstbestimmungsrecht“ der Ukraine wird demnach vor allem über ein perspektivisches „Menschenrecht auf Waffenstationierung“ definiert: „Dieses Recht auf staatliche Selbstbestimmung macht urplötzlich (und sicher nur vorübergehend) einen großen Teil der westlichen Propaganda aus, während es in den zahlreichen vom Westen destabilisierten Ländern anscheinend nichts galt.“
Erwähnt werden muss auch, dass Deutschland ebenfalls seinen Einfluss auf „unterlegene“ Staaten ausübt. Einflusssphären sind kritikwürdig, aber ihre Existenz nur beim Gegner festzustellen, ist Propaganda. Zudem gibt es mehr oder weniger zerstörerische Formen der Einflussnahme. Der Einfluss der USA auf die Ukraine richtet sich direkt gegen den Weltfrieden und europäische Interessen.
Titelbild: Paul Craft / Shutterstock
Rubriken:Außen- und SicherheitspolitikMedienkritik
Schlagwörter:DonbassGeostrategieneutrale LänderRusslandSeparatismusSpiegelTagesspiegelUkraineUSAWirtschaftssanktionen
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